Awarenesskonzept
Was ist Awareness?
Awareness kommt von „to be aware“ und bedeutet also, sich bewusst zu sein, etwas wahrzunehmen und für gewisse Ziele sensibilisiert zu sein. Es hinterfragt gesellschaftliche Machtverhältnisse, sowie die eigene Positionierung in diesen, und ist somit auch explizit ein antisexistisches Konzept. Awareness soll also einen Weg bieten, jegliches diskriminierendes Verhalten zu erkennen und gemeinsam dagegen anzukämpfen. In der Praxis ist dies die Grundlage des Handelns. Betroffenenschutz und -unterstützung stehen dabei im Vordergrund. Eine Awareness-Gruppe steht also mit ihrem Handeln und ihrer Präsenz für einen achtsamen und bewussten Umgang mit sexualisierter Gewalt und Diskriminierung.
In unserer Gesellschaft werden ständig und kontinuierlich verschiedene Formen von Diskriminierung und Unterdrückung reproduziert. Daraus resultieren Übergriffe, Belästigungen und andere Formen von Gewalt. Fester Bestandteil von Awareness ist somit auch die selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Verhaltens- und Denkmustern, um einen achtsamen und bewussten Umgang mit Betroffenen von struktureller Diskriminierung zu erreichen.
Consent
Folgt mit Menschen, die ihr schon kennt, den Konsens-Konzepten, die ihr eh schon untereinander ausgehandelt habt. Bei Menschen, die ihr noch nicht kennt, gilt ein Nein bis ein explizites Ja ausgesprochen wurde!
Manchmal bringen Menschen Schilder mit Aufschriften wie „Free Hugs“ oder „Free Kisses“ zum CSD. Auch dabei gilt: Fragt noch einmal nach, ob die Person umarmen / küssen / etc. dürft, anstatt das einfach so plötzlich zu tun!
Gewalt
Feministischer Gewaltbegriff
- Gewalt muss nicht immer sichtbar sein. Sie kann auch psychisch und emotional ausgeübt und erfahren werden.
- Gewaltvolle Handlungen werden in die vorherrschenden Machtverhältnisse eingeordnet. Gewaltvolle Situationen sind häufig abhängig von der gesellschaftlichen Positionierung von Personen. Sie kann dazu beitragen, wie und welche Gewalt erlebt wird und welche Möglichkeiten bspw. zum Umgang mit der erlebten Gewalt zur Verfügung stehen.
- Es gibt keine objektiven Kriterien für Gewalt. Jede Person hat ihre eigenen Grenzen und kann nur selbst definieren, ob und wie sie gewaltvolle Handlungen erlebt.
Im Kontext von Awareness geht es bei Gewalt und Diskriminierung nicht um eine wissenschaftliche Definition, sondern um die Sicht der Betroffenen. Motive der diskriminierenden Person werden nicht miteinbezogen, denn es gibt keine Rechtfertigung für grenzüberschreitendes Verhalten. Viel mehr ist es wichtig, die gesellschaftlichen Strukturen mitzudenken, um individuelle Gewalt aus der Perspektive der Betroffenen zu betrachten.
Betroffene Person
Wir verwenden den Begriff betroffene Person in Abgrenzung zu dem Begriff Opfer (es sei denn Personen wünschen eine andere Bezeichnung). Der Begriff Opfer wird häufig mit Hilflosigkeit, Schwäche und Passivität verbunden und birgt die Gefahr, Menschen darauf festzuschreiben bzw. bestimmte Verhaltensweisen von ihnen zu erwarten. Die Bezeichnung betroffene Person lässt offen, wie die Person auf Diskriminierungserfahrung reagiert. Wir halten es für wichtig, Personen keine Attribute zuzuschreiben, sondern ihnen als selbstbestimmte Menschen zu begegnen.
Sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung
Unter sexualisierte Gewalt fallen alle sexuellen Handlungen, die gegen den Willen einer Person ausgeübt werden. Statt von „sexueller Gewalt“ zu sprechen, was das Motiv die Ausübung sexueller Handlungen in den Vordergrund stellt, wird mit dem Begriff sexualisierte Gewalt die Ausübung von Gewalt und Macht betont. Sexualität wird dabei als Mittel genutzt, um Gewalt auszuüben und Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten oder Macht über eine bestimmte Person zu erlangen. Es gibt keine objektiven Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit Betroffene von sexualisierter Gewalt oder Vergewaltigung sprechen dürfen. Entscheidend ist, dass die Handlungen oder Taten gegen der Willen oder ohne Einwilligung der Person ausgeübt wurden. Die gesellschaftliche Verharmlosung, Begünstigung und Normalisierung von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung wird als Rape Culture (dt. Vergewaltigungs-Kultur) bezeichnet. Dieser Zustand äußert sich durch Sprüche im Alltag, in Kunst & Literatur sowie in Berichterstattungen und Gesetzen. Häufig wird grenzüberschreitendes Verhalten nicht anerkannt oder die Schuld bei der betroffenen Person gesucht.
Trauma
Ein Trauma ist eine körperliche oder psychische Verletzung. Wenn wir etwas erleben, das außerhalb unserer Bewältigungsmöglichkeiten ist, dann kann das für uns ein Trauma darstellen. Zentral dafür sind Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, was zu dauerhafter Erschütterung des Selbst- und Weltbildes führen kann. Unsere Grenzen und Bewältigungsmöglichkeiten sind individuell verschieden. Somit sind die Bedingungen, die zu einer Traumatisierung führen und die Folgen davon nicht objektiv bestimmbar. Als häufige Begleiterscheinungen gelten depressive Zustände oder psychosomatischen Belastung. Es kann bei dem Erleben von Gewalt auch dazu kommen, dass wir Erinnerungen an die traumatisierenden Situationen abspalten oder verdrängen. Es ist ein Schutz- und Abwehrmechanismus der Psyche. Das erneute Durchleben der traumatischen Situation kann durch sog. Trigger ausgelöst werden, selbst wenn eine Person aufgrund von Verdrängung sich ihrem Trauma nicht bewusst ist. Trigger können beispielsweise Wörter oder Verhaltensweisen sein. Wenn also im Falle von (sexualisierter) Gewalt die betroffene Person keinen klaren Ablauf schildern kann oder diese Erfahrung erst Jahre später anspricht, so ist das kein Zeichen ihrer Unglaubwürdigkeit. Vielmehr ist es ein Zeichen ihrer Ohnmacht beim Erleben der Gewalt. Traumatisierung als psychiatrische Diagnose wurde lange umkämpft, um die verursachten psychischen Belastungen durch sexualisierte Gewalt anzuerkennen. Traumatisierung und die damit einhergehenden Symptome sind eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis. Traumatisierung kann nicht abschließend ohne den gesellschaftlichen Kontext verstanden werden. Es ist sogar möglich, dass sich dasvorherige Erleben von Gewalt erst dann zu einem Trauma entwickelt, wenn der betroffenen Person nicht geglaubt oder ihr gar Mitschuld gegeben wird.
Grundpfeiler von Awareness
Definitionsmacht
Definitionsmacht ist die Macht über die Definition dessen, was wir wahrnehmen und erleben. Nur die betroffene Person selbst kann das Erlebte und den Grad ihrer Verletzung benennen. Was und wie viel die betroffene Person über das Erlebte erzählt, liegt allein bei ihr. Awareness will einen Raum schaffen, in dem sich niemand rechtfertigen muss, für das, was passiert ist. Genaueres Nachfragen und Anzweiflungen des Geschehenen werden vermieden. Dadurch können Betroffene vor belastenden Gefühlszuständen geschützt werden, die aufkommen könnten, wenn sie traumatisierende Erfahrungen erneut durchleben müssten oder sich insgesamt nicht unterstützt fühlen würden.
Solidarische Parteilichkeit
Parteilichkeit bedeutet, sich an die Seite der betroffenen Person zu stellen. Dazu gehört die Definitionsmacht anzuerkennen und die innere Haltung der Solidarität nach außen zu tragen. In Gesprächen mit anderen Personen wird die Definitionsmacht sowie die Forderungen der betroffenen Person unterstützt. Parteilichkeit im Sinne von Awareness heißt auch sich an die Seite derer zu stellen, die unter den bestehenden Machtverhältnissen leiden. Dazu zählen alle Formen der Diskriminierung.
Selbstermächtigung
Aus Definitionsmacht und Parteilichkeit entsteht Selbstermächtigung. Betroffene sollten nicht als passive Opfer betrachtet werden. Die Person hat eine Situation erfahren, in der Macht über sie ausgeübt und somit ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt wurde. Die Definitionsmacht ermöglicht es, dass die betroffene Person wieder handlungsfähig werden kann. Dazu ist es wichtig, dass es parteiliche Unterstützer*innen an ihrer Seite gibt.
Selbstfürsorge
Mitglieder eines Awareness-Teams sind Ansprechpersonen für Betroffene. Erzähltes, Gesehenes oder auch die Konfrontation von Täterpersonen können die eigene Belastungsgrenze überschreiten und eigene Gewalterfahrungen triggern. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Kapazitäten für Awareness-Arbeit stets neu zu überprüfen. Pausen während den Schichten sowie zwischen Veranstaltungen sind dabei elementar. Außerdem können Gespräche mit Vertrauenspersonen helfen, die Erfahrungen einer Awareness-Schicht zu verarbeiten. Um die betroffene Person zu schützen, sollte allerdings nur in anonymisierter Form mit Dritten gesprochen werden.
Generelle Anlaufstellen
Notruf: 112
Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222, Mail: https://online.telefonseelsorge.de/
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116 016
Walkie Talkie Tübingen: +49 178 8715028
Anlaufstelle Sexualisierte Gewalt (AGIT): 07071 79 111 00 und 07071 79 111 01 (Beratung dienstags von 10 bis 12 Uhr möglich)
Nummer gegen Kummer: 116 111
Youth-Life-Line Tübingen: online unter https://onlineberatung.aygonet.de/youth-life-line/
Psychiatrie Uni-Klinik Tübingen: 07071 29 823 11
Psychologische Beratungsstelle Brückenstraße: https://www.pbs-brueckenstrasse.de/willkommen